Nachhaltigkeit entwickeln, Intervention wagen und ländliche Räume stärken

Soziokultur braucht Veränderung braucht Kulturpolitik

Ein Beitrag von Prof. Dr. em. Wolfgang Schneider

„Kulturfördergesetze, Förderpläne, eine aktivierende Kulturpolitik und auch Cultural Governance-Konzepte eint zwar, dass diese hilfreiche Instrumente zur Planung und Steuerung kulturpolitischer Entwicklungsprozesse darstellen“, schreibt Christian Müller-Espey in seiner Dissertation unter dem Titel „Zukunftsfähigkeit gestalten“. (Müller-Espey 2019, S. 331) Die Methoden würden aber keine eindeutig erkennbare, nachhaltige Rahmung aufweisen. In seiner Untersuchung zu nachhaltigen Strukturen soziokultureller Zentren folgert er deshalb: „Es wäre zeitgemäß und folgerichtig, eine konsequente Rücksichtnahme auf Natur und Mensch in das Zentrum zukünftigen kulturpolitischen Handelns zu stellen“. (ebenda)

Die Kulturlandschaft in Deutschland ist geprägt durch eine institutionalisierte Infrastruktur. Die Kulturpolitik verweist in Kommunen, Ländern und im Bund auf ständige Zuwächse, bei allen Verteilungskämpfen in den Haushaltsdebatten geht es um mehr Budgets, vor allem um die Immobilien für Kultur, um die Finanzierung von Umbaumaßnahmen, Renovierungsvorhaben und Neubauten. Aber wer macht sich eigentlich Gedanken um die Zukunftsfähigkeit all dieser Entwicklungen? Wer sorgt sich um die Nachhaltigkeit in der Kulturlandschaft? Wer hat hierzu strategische Überlegungen, Visionen, vor allem Konzeptionen? Es bedarf offensichtlich einer Nachhaltigkeitskultur in Gesellschaft und Politik, es braucht Bildung für nachhaltige Entwicklung, branchenspezifische Prozessentwicklung und eine neue kulturmanageriale Praxis.

Die Soziokultur könnte als Modell dienen, Soziokulturelle Zentren sind nah dran an gesellschaftlichen Transformationen, sie begleiten seit ihrer Erfindung Menschen zur Selbstermächtigung und gewähren Teilnahme und Teilhabe. Soziokulturelle Zentren präsentieren Programme und Projekte geradezu programmatisch in alter Bausubstanz, nutzen Fabrikgebäude, Schlachthöfe und andere Leerstände. Aber wie sollen zukunftsweisende Wege gestaltet werden? Müller-Espey identifiziert die Vielfalt der Aufgabenfelder als Markenkern von Soziokultur und fragt kritisch, „ob diskussionsintensive Selbstbestätigungsdebatten als Steuerungsmodell noch zeitgemäß sind oder ob nicht eine deutlichere Schwerpunktlegung der Leistungen zukunftsweisender wäre“.  (ebenda, S. 12) Seine Forschungsagenda umfasste die besondere Inaugenscheinnahme von Indikatoren, Prüfkriterien und Handlungsansätzen. Bildhaft spricht er vom Warndreieck Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft und dem politischen Willen, „Wirtschaftswachstum, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit nach diesem Modell in Einklang miteinander zu bringen“. (ebenda, S. 23)

Im Hintergrund der Forschungen fungieren die Ergebnisse des Rio-Erdgipfels von 1992 (Agenda 21), das Begriffsverständnis des Rates für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung, vor allem aber die als Meilensteine propagierten 17 Handlungsfelder auf dem Weg zu einer Agenda 2030 der Vereinten Nationen (von 2017). Ausgehend von der 2002 im Bundestag beschlossenen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wäre eine strategische Vorgehensweise möglich, bei der Formierung nachhaltiger Strukturen eine entscheidende Rolle spielen. Es geht also um Umsteuerung, Feinjustierung und Stellschrauben.

Und immer wieder hält Christian Müller-Espey die Faktoren eines Change Managements fest, spricht vom Wandel erster Ordnung, den Kurskorrekturen und dem Wandel zweiter Ordnung, den Transformationen, den Don’ts und Dos sowie von Entschlusskraft und Leadership. Darüber hinaus beruft er sich auf Wilhelm Schmids Philosophie der Lebenskunst (Schmid 1998), auf die Kraft einer unmittelbaren ästhetischen Erfahrung und auf Kulturtechniken wie das Theaterspiel, Tanzen, Musik machen, kreatives Schreiben oder Gestalten. An dieser Stelle kommen auch kulturpolitische Gegenentwürfe ins Spiel, Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ und Hermann Glasers „Bürgerrecht Kultur“ sowie all die Positionsbeschreibungen aus mehreren Jahrzehnten, ebenso wie die Diskurse insbesondere aus der Selbstorganisation wie dem Bundesverband Soziokultur.

Nachhaltigkeitskultur als Herausforderung

Auf der Basis empirischer Untersuchungen entstand am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim ein weiteres Forschungsprojekt, das sich mit der Entwicklung eines Nachhaltigkeitskodexes für Soziokulturelle Zentren beschäftigt und Erkenntnisse aus der Praxis generiert, die den Ansprüchen der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen ebenso entsprechen wie der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Es sollten branchenspezifische Kriterien und Leitbilder zur Diskussion entwickelt und Kulturschaffende zur Mitwirkung motiviert werden. Der Rat für nachhaltige Entwicklung förderte die zweijährige Studie, Soziokulturelle Zentren und ihr Bundesverband waren Partner des Projekts; denn diese gelten nach wie vor als kulturpolitische Modelle, nah dran an gesellschaftlichen Transformationsprozessen, mittendrin was die Selbstermächtigung von Menschen betrifft und Akteure vor Ort, die den Auftrag wahrnehmen, Teilnahme und Teilhabe zu gewähren. (nach Schneider 2020)
Das Forschungsdesign umfasste fünf Handlungsansätze, die mittels Workshops vor Ort, Seminaren mit Studierenden und Interviews mit Experten zu untersuchen waren. Zunächst galt es, die Prozesse nachhaltiger Entwicklung im Kulturbetrieb zu evaluieren und beratende Begleitung zu unterstützen. Die Beispiele guter Praxis entwickeln zudem durch kulturelle Bildungsangebote ein Programm zur Nachhaltigkeit, das auch bei den Zielgruppen für nachhaltige Verhaltensweisen sensibilisieren soll. Die statistische Berichterstattung wurde um die Wirkungsfelder nachhaltigen Kulturmanagements erweitert, um durch Standardisierung den Stand der Entwicklung zu dokumentieren und zu forcieren. Ansinnen der Forschung war auch eine Fortschreibung der Leitbilder durch die Sichtbarmachung nachhaltiger Entwicklungen und die Kommunikation des Wissenstransfers. Letztendlich ging es dann auch um die Bündelung der Erfahrungen, die Nutzbarmachung der qualitativen und quantitativen Empirie für das Netzwerk der Soziokulturellen Zentren, aber auch im besten Falle darüber hinaus für die gesamte Kulturlandschaft.

Die Ausgangsüberlegungen haben viel mit den aktuellen Aktivitäten der soziokulturellen Akteure zu tun, die sich seit geraumer Zeit um Fragen der Biogastronomie kümmern, über die Mobilität ihrer Teilnehmenden als Umweltfaktor nachdenken, Kriterien für weitere klimafreundliche Abläufe zum Beispiel auch in Beschaffung und Beschaffenheit von Materialien entwickeln sowie andere ressourcenschonende Verhaltensveränderungen anstreben. Fast ein Viertel der befragten Soziokulturellen Zentren formulierten Reduktionsziele, von der Verringerung des Strom- und Energieverbrauchs, von der Nutzung energieeffizienter Lichttechnik, von der Reduzierung des Papierbedarfs, der Vermeidung von Plastikmüll und der Einsparung beim Heizen. Alle Zentren sind selbstverständlich an energetischen Sanierungen interessiert, die meisten sind damit permanent beschäftigt und viele in der ständigen Erwartung, dass sich dies in den kommunalen und Länderförderungen niederschlägt.

Für die Ausgestaltung eines branchenspezifischen Nachhaltigkeitskodexes für Soziokulturelle Zentren gibt es gute Gründe und sie sind nicht nur durch ein verändertes Verständnis im Ressourcenverbrauch ableitbar. In der Selbstdarstellung des Forschungsprojekts wird mit dem Titel „Jetzt in Zukunft“ geworben; denn es geht nicht nur um das Nachhaltige in der Soziokultur, es geht auch um die Perspektiven des Wirkens und für die Werke in der Kulturarbeit, um ein zukünftiges Verständnis, um eine gesellschaftliche Aufgabe, um eine notwendige Gestaltungskraft. Soziokulturelle Zentren sind in erste Linie keine Wirtschaftsbetriebe, auch wenn sie einen Großteil ihrer Einnahmen selbst akquirieren müssen.  Aus ihrer Geschichte heraus waren sie vor allem Impulsgeber für Initiativen, die offensichtlich gefehlt haben, sie sind nach wie vor Seismografen für Fehlentwicklungen, die sich derzeit insbesondere in Intoleranz und Respektlosigkeit, Nationalismen und Rassismus ausdrücken, sie könnten wieder Agora sein für jene, die ansonsten nicht Gehör finden und kaum Zugänge zur Kulturlandschaft haben.

Die Infrastrukturen sind von gestern, die Kultureinrichtungen kämpfen heute um das Überleben, weshalb es Konzeptionen für morgen braucht, die Fragen der Ökologie nicht zur Funktionalisierung von Kulturarbeit degradieren, sondern existenzielle Themen in den Fokus nehmen und dafür Rahmenbedingungen entwickeln. Die Forschung mahnt deshalb auch Korrekturen in der Kulturförderung an, fordert die Stärkung kultureller Bildung für nachhaltige Entwicklung als kultur- und bildungspolitischen Auftrag und plädiert für Kulturentwicklungsplanungen als Instrument mit nachhaltiger Wirkung.

Die öffentliche Kulturpolitik muss auch ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Städte und Gemeinden, Länder und Regionen müssen Strategien entwickeln, um die sozialen Barrieren der Kultureinrichtungen und der Kulturarbeit zu überwinden und mehr Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Mitwirkung zu bewegen.

Appell div. Partner beim Europäischen Kongress des Fonds Soziokultur 2010

Zentren der Soziokultur als Projekt der Reform

Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages befasste sich schon 2007 mit den rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen von Soziokulturellen Zentren. Sie wurden explizit als Gegenstand bereits im Einsetzungsbeschluss benannt. Im Schlussbericht befinden sich auf gut fünf von mehr als 500 Seiten hierzu Bestandsaufnahmen, Problembeschreibungen und Handlungsempfehlungen. (nach Schneider 2015)
Aber: Soziokultur ist in der Kulturlandschaft nicht zu reduzieren auf die Infrastruktur von sogenannten Zentren, Soziokultur ist eine viel umfassendere Programmatik für Praxisformen, die gesellschaftliches Leben und kulturellen Ausdruck aufeinander beziehen. Auch kulturelle Bildung kann demnach selbstverständlich Soziokultur sein und auch die institutionalisierten Kunstbetriebe wie Theater, Museen und Bibliotheken haben in zunehmendem Maße soziokulturelle Dimensionen in ihre Arbeit integriert.

Mehr als zehn Jahre nach dieser bundespolitischen Initiative, Kultur in Deutschland zu vermessen, ist deshalb zu konstatieren, dass die Enquete-Kommission mit ihrer Beschränkung auf Soziokulturelle Zentren sich ebenso wie in der Auseinandersetzung mit den Potenzialen der Soziokultur allzu sehr beschränkt hat und damit der Bedeutung ihrer integralen Rolle in der deutschen Kulturlandschaft nicht gerecht werden konnte. Das ist dann auch nach wie vor ein Problem in der Kulturförderung des politischen Mehrebenensystems: Wo fängt Soziokultur an, wo hört sie auf? Wer ist hierfür zuständig: Bund, Länder, Kommunen? Welche Organisationsformen braucht Soziokultur im Kunstbetrieb und in der Kulturlandschaft?

Soziokultur sei Teil einer alternativen Kulturbewegung, heißt es im Enquete-Text. Fragt sich nur, wo denn die anderen Teile verhandelt werden? Und in der Tat wird man auch anderswo fündig. Kulturelle Bildung ist in diesem Zusammenhang eine weitere kulturpolitische Querschnittsaufgabe, zumal alle anderen Kultureinrichtungen durchaus ebenso soziokulturelle Arbeit zu leisten sich anschicken. Diese Tatsache hat sich seitdem noch einmal ausgeweitet. Soziokulturelle Projekte all überall; kulturpädagogische Maßnahmen als Appendix der Programme von Konzerthäusern, Ausstellungshallen und Stadttheatern; Kunstvermittlung als kulturelle Bildung, die sich jenseits  schulischer Curricula etabliert.

Soziokultur ist also schon lange nicht mehr eine Erscheinungsform alternativer Kulturbewegungen, soziokulturelle Zentren haben schon lange nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch für Soziokultur. Die Enquete-Kommission hat zu kurz gedacht; auch wenn es schon als kulturpolitische Zeichensetzung zu verstehen war, dass neben den Tankern der Hochkultur die Beiboote der Alternativkultur mit einem eigenen Kapitel Wahrnehmung und Würdigung erfahren durften.
Insofern hat der Schlussbericht noch heute Gültigkeit; die daraus resultierende Kulturpolitik bedarf aber einer Reform. Denn bei all den vorangegangenen Handlungsempfehlungen besteht noch immer reichlich Handlungsbedarf: Die Verknüpfung der Kultur mit dem Sozialen ist eine der zentralen Herausforderungen der Gesellschaft. Und das haben mittlerweile die meisten relevanten politischen Gruppierungen verstanden.

Die kulturpolitische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Soziokultur hat eine Geschichte. Ein Blick in das Magazin „Soziokultur“ des Bundesverbandes Soziokultur e. V. verweist auf die Baustellen, an denen die Modelle der Zukunft entwickelt werden. Das vielfältige und spartenübergreifende Angebot wird herausgestellt, es wird sich mit den Wahrnehmungsweisen auseinandergesetzt; das Zentrum als Plattform für freiwillige Dienste wird thematisiert, aber auch die Wege zur Professionalisierung werden erörtert; die ökonomischen Dimensionen werden analysiert und gutes Wirtschaften als Element des Erfolges diskutiert. Auf dem Europäischen Kongress des Fonds Soziokultur 2010 wurde über kulturelle Strategien und soziale Ausgrenzung nachgedacht. Die Erklärung, die der Fonds Soziokultur, die Kulturpolitische Gesellschaft, die (damalige) Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren, die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung und der Bundesverband der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen auf diesem Kongress verabschiedet haben, schließt mit dem Appell: „Wir appellieren: Die öffentliche Kulturpolitik muss auch ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Städte und Gemeinden, Länder und Regionen müssen Strategien entwickeln, um die sozialen Barrieren der Kultureinrichtungen und der Kulturarbeit zu überwinden und mehr Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Mitwirkung zu bewegen. Die jahrzehntelangen Erfahrungen der soziokulturellen und kulturpädagogischen Akteure in ganz Europa können dafür genutzt werden. Der Prozess der sozialen und kulturellen Spaltung der Gesellschaft muss überwunden werden. Die Prioritäten bei der öffentlichen Finanzierung von Kunst und Kultur sind deshalb auch auf ihre soziale Balance hin zu überprüfen. Nur dann wird Kulturpolitik die Zustimmung aller Menschen bekommen und selbst eine gute Zukunft haben!“ (Fonds Soziokultur u.a. 2010)

Soziokultur gestaltet sich insbesondere nach den Erfordernissen und Bedürfnissen der urbanen und regionalen Gegebenheiten, von sozialen und kulturellen Bewegungen, des ökonomischen und demografischen Wandels. Sie ist geprägt durch die Menschen, die sie machen, sie ist geprägt von den gesellschaftlichen Herausforderungen und gelegentlich auch von der Architektur, in der sie stattfindet. Sie braucht vor allem die Kompetenz der Kommunikationsfähigkeit – und die braucht Anspruch, Empathie und Persönlichkeit. Offenheit und Neugier schärfen zudem den Blick auf die Veränderungen in der Gesellschaft. Insofern braucht es den neuen Typus der Kulturvermittlung, der in den Kunstbetrieben vielfältig anwendbar ist. Die Durchlässigkeit in der Kulturlandschaft  könnte auch der Soziokultur gut tun – als Netzwerk im kommunalen Raum, als Kooperationspartner in der Region, als offenes Kulturzentrum in der Stadt.

Die Zukunft der Soziokultur ist demnach also sehr stark mit der Qualifikation der Generation Nachwuchs verbunden. Wenn es gelänge, den Transformationsprozess auch personell zu gestalten, wenn es gelänge, Arbeitsstrukturen zu sichern, die künstlerisch und kulturpädagogisch Gewicht haben, wenn es gelänge, nachhaltig Aus-, Fort- und Weiterbildung zu reformieren, dann müsste es einem um die Soziokultur nicht bange sein.

Soziokulturelle Interventionen in ländlichen Räumen

„Kulturzentren sind das Herzstück des künstlerischen und soziokulturellen Lebens europäischer Gemeinden“, sagt Ivo Peeters, Präsident des European Network of Cultural Centers (ENCC), anlässlich einer Konferenz im Herbst 2017 an der Universität Hildesheim, die sich mit Perspektiven für ländliche Entwicklung beschäftigte. Peeters spricht auch als Direktor des Kulturzentrums „De Zeyp“ im Brüsseler Bezirk Ganshoren und weiß vom täglichen Engagement, kulturpolitisch zu denken und zu gestalten, das Partizipation und Integration ermöglicht, Hoch- und Breitenkultur fördert sowie die Nachhaltigkeit von Netzwerken und Kooperationen in Kunst und Kultur im Blick hat. Programmatisch formulierte er: Die Entwicklung eines stärkeren Gemeinde- und Gemeinschaftslebens sei der Kitt, den es zur Erneuerung lebendiger Dörfer brauche. (nach Schneider 2018)

Rund 100 Teilnehmende diskutierten Theorie und Praxis von Kulturarbeit, stritten um Konzepte und Instrumente von Kulturpolitik und formulierten schließlich in einem Manifest, wie eine Kultur der Beteiligung in den Regionen innovativ wirken kann. Expertisen aus Armenien und Irland, aus Dänemark und Polen, aus den Niederlanden und Großbritannien wurden ausgetauscht, Praxisbeispiele aus der niedersächsischen Landschaft in Augenschein genommen. Eckhart Liss war wieder einmal begnadeter Gastgeber auf dem Hermannshof, Sabine Zimmermann und Stefan Könneke präsentierten ihre reichlichen Erfahrungen und reflektierten Erkenntnisse aus dem Netzwerk Kultur & Heimat im Hildesheimer Land. In den Laboratorien ging es um Vielfalt als Konflikt, um die Rolle der Kirchen sowie um mobile und dezentrale Modelle von Kulturarbeit in ländlichen Räumen.

Und immer wieder kam es zur Selbstverständigung der Konferenz; denn auch Europa hat noch genügend Verständigungsprobleme, erst recht in Sachen Kunst und Kultur. Ja, es gibt nicht den ländlichen Raum, es gibt ländliche Räume. Ja, auch kleinere Städte jenseits der Metropolen verlieren ihre kulturelle Identität und brauchen Kulturentwicklungsplanung. Ja, die Ausgangslage sind Globalisierung und Digitalisierung sowie der demografische Wandel, aber das heißt noch lange nicht, dass es nur eine Lösung gäbe. Denn wer kämpft hier gegen wen? Vielen geht es ganz selbstverständlich um Arbeitsplätze, allen um gute Bildung, andere legen großen Wert auf sinnvolle Freizeitgestaltung. Und wie sagte Lone Leth Larsen: „Die Leute aus den Dörfern haben Kultur – und wenn wir das nicht respektieren, dann gibt es ein gesellschaftliches Problem!“ Die Dänin war Direktorin des dänischen Kulturinstituts und ist Kulturberaterin des EU-Büros für die Region Mitteljutland, das für Konzeption und Durchführung des Programms zur Kulturhauptstadt 2017 in Aarhus verantwortlich war. Sie wendet sich gegen die paternalistische Haltung, man müsse mehr Kultur auf’s Land bringen, und sie kritisiert die Landverschickung von Künstler*innen. Denn in der Regionalentwicklung, insbesondere in der der ländlichen Räume, die großen Transformationsprozessen ausgesetzt sind, könne es nicht um die Hoffnung gehen, ein Klima zu schaffen, in dem die „Creative Class“ als neue Elite Heimat findet oder die Menschen dort zu smart agierenden, digital aktiven und dynamischen Entrepreneurs zu machen.

Aber um was geht es dann, wenn von „ausblutenden Dorfgemeinschaften“ die Rede ist, wenn politische Maßnahmen zu treffen sind, die Menschen zum Bleiben in ländlichen Regionen zu ermuntern – und eben nicht „das sinkende Schiff“ in der Diaspora zu verlassen? In Hildesheim verständigten sich die Akteure zunächst einmal ganz banal darauf, dass in ländlichen Räumen nicht nichts ist, sondern in der Regel eine lange Tradition von Breitenkultur gelebt wurde. Von der Vitalität des Sozialen war die Rede, vom kreativen Potenzial, das im dialektischen Verständnis auch kritisch gesehen werden kann. Die Impulsgeber sind entweder weggezogen oder von gestern, die Angebote verstaubt und selbstreferentiell, Vereinsmeierei nicht jedermanns und -fraus Sache; die junge Generation bleibt eher außen vor, wenn sie sich überhaupt noch für ihre Heimat verantwortlich fühlt. Und das, was Heimat sein kann, wird ja derzeit vor allem rechts außen definiert, zur Abgrenzung vom Fremden, rassistisch und nationalistisch verbrämt.

Beate Kegler vom gastgebenden Institut für Kulturpolitik der Universität weiß ein Rezept, zumindest was die kulturpolitische Vorgehensweise betrifft. Ihre Fragen sind zusammen mit weiteren Beiträgen nachzulesen in einer Publikation, die von der Stiftung Niedersachsen möglich gemacht wurde, in Englisch und Deutsch, mit wissenschaftlichen Betrachtungen des Phänomens, mit Beispielen aus der europäischen Praxis und mit kulturpolitischen Perspektiven: „Vital Village. Entwicklung ländlicher Räume als kulturpolitische Herausforderung“. Kegler setzt auf Soziokultur: „Wenn es darum gehen soll, gelingende Strategien und Methoden sowie kulturpolitische Handlungsempfehlungen für die Entwicklung heterogener ländlicher Räume zu entwickeln, mag es jedoch hilfreich sein, genauer hinzuschauen, welche Formen kultureller Betätigung in welcher Weise zur Gesellschaftsgestaltung beitragen. Was verstehen wir unter traditioneller Breitenkultur? Welche Merkmale vereinen Amateurtheater, Spielmannszug, Heimatverein und Blaskapelle? Und welche Rolle spielt die Soziokultur ländlicher Räume in diesem Feld? Versteht sie sich als Gegenspielerin, Netzwerkpartnerin oder Impulsgeberin der Breitenkultur?“ (Kegler 2017, S. 217)

Regionalentwicklung bedarf der Soziokultur und deshalb sind öffentliche Projektmittel nur ein Element von „Capacity Buildung“ beim „Community Building“, zwei Termini, die auf der Konferenz immer wieder im Mittelpunkt standen. Viele Beispiele guter Praxis machten deutlich, was zukünftig programmatisch zu beachten sei: Die Zusammenarbeit einer Region, dank partizipativer Programmentwicklung, partizipativer Politikentwicklung und partizipativer Landschaftsentwicklung, immer unter dem Motto „Rethink the Village“. Teilhabe bei der Planung und Mitverantwortlichkeit ist auch die Conclusio von Piotr Michalowski, der mit seinem kommunalen Kulturzentrum in der Landgemeinde Olesnica die Kulturhauptstadt Europas 2016 Wroclaw begleitet hat. Auch er setzt auf dezentrale Modelle, fördert kollektive Zusammenarbeit und horizontale Strukturen. Vor allem gehe es darum, die Mobilität in der Region zu steigern, so dass Künstler*innen und Animateur*innen die Bewohner*innen in ihren Dörfern erreichen könnten und vor Ort für Kultur mobilisierten, etwa indem sie „Wanderpfade“ mit einem Kachelofen und einem mobilen Brotbackofen organisierten. Bushaltestellen wurden runderneuert und boten Versammlungsmöglichkeiten sowie als Plattform für die Kreativität lokaler Initiativen.

Neben solchen Praxisbeispielen bot die Konferenz auch eine Verständigung über kulturpolitische Schwerpunktsetzungen. Wichtig sei es, über den Tellerrand des Dorfes hinauszuschauen, Verbündete für die Kulturarbeit in den Sozial- und Bildungseinrichtungen zu finden und für diese Zusammenarbeit Förderungen zu etablieren. Es könnte originäre Aufgabe von Landkreisen werden, Leitbilder für die kulturelle Entwicklung zu entwerfen, um kulturelle Vielfalt zu sichern und Soziokultur als Querschnittsaufgabe zu implementieren. Klar wurde, dass es sich nicht nur um eine lokale Aufgabe handele oder gar nur den ländlichen Raum betreffe. Denn: Ein Europa der Regionen will gelebt werden; Europa galt schließlich einmal als Projekt, Europa war auch eine Vision, und um Europa eine Seele zu geben, bedarf es zivilgesellschaftlicher Initiativen für kulturelle Verbindungen. Denn wenn Stadt und Land noch weiter auseinanderdriften, dann komme es zu weiteren Verwerfungen. Landflucht und Verstädterung gehören deshalb sofort auch auf die Agenda der Kulturpolitik in Europa.

Changemanagement als kulturpolitischer Auftrag

Die ländlichen Räume haben offensichtlich Konjunktur in der Kultur. Mit dem demografischen Wandel hat sich der Blick auch auf die Regionen jenseits der großen Städte geweitet. Es geht jetzt in Politik und Wissenschaft um schrumpfende und alternde Kommunen, um strukturschwache Gegenden, um Dezentralität in Bau- und Landwirtschaft, aber eben auch um Kunst. Regionalentwicklungsprojekte in ländlichen Räumen sind oft auch mit künstlerischer Produktion und kulturellem Erbe verbunden, Diversität ein  Schlüsselbegriff und Teilhabe ein gesellschaftlicher Auftrag.

Rahel Tiemeyer und Jana Kegler hatten die Evaluation eines Förderprogramms des „Netzwerkes Kultur und Heimat Hildesheimer Land e.V.“ im Auftrag des Landkreises übernommen und entlang des Forschungsprozesses zusammen ihre Masterarbeit geschrieben. Die übergeordnete Frage beschäftigte sich mit der Attraktivität einer Region sowohl für die dort lebende Bevölkerung als auch für Touristen als Reiseziel. Mit dem Programm „Rosen & Rüben“ wurden 2018 einen ganzen Sommer lang Projekte in der Region zusammengefasst, die sich aus den „Schätzen“ der vielen Orte speisten und das kulturelle Potenzial präsentierten. In der Untersuchung geht es darüber hinaus auch um Konzepte und Strukturen, um Stärken und Schwächen sowie um Herausforderungen und Gelingensfaktoren.

Die Ergebnisse sind beeindruckend, was die Kulturszene des Landkreises prägt, von Vereinen und Initiativen entwickelt, von der Heimat- und Brauchtumspflege getragen wird und zum großen Teil durch Ehrenamtlichkeit entsteht. Klug haben die beiden Studentinnen die Kategorisierung der Akteurskonstellation transparent gemacht und nutzen dabei die aus der Literatur stammenden einschlägigen Begrifflichkeiten wie u. a. Breitenkultur, Soziokultur oder Kulturarbeit der Kirchen. Aus der Befragung extrahieren sie wichtige Elemente kultureller Theorie und beschreiben die Phänomene kultureller Praxis. Über Partizipation und Distribution wird dabei ebenso nachgedacht wie über Infrastruktur und Mobilität. Gelungen ist auch das Herausarbeiten von Experimentierfreudigkeit und Risikobereitschaft. Von besonderer Bedeutung sind die Qualitätsmerkmale, die im Programm eine Rolle gespielt haben: das gemeinsame Tun unterschiedlicher Menschen, die positive Darstellung der Region nach außen sowie der Anspruch des Künstlerischen und die Professionalität des Kulturmanagements. Immer wieder wird auch die kulturpolitische Dimension thematisiert: Auch wenn lokale Vernetzungen teilweise priorisiert würden, sei die Entwicklung und Gestaltung eines guten Kontaktes zur kommunalen Verwaltung und zu (kultur-)politischen Entscheider*innen, Fördermittelgeber*innen, potenziellen Spender*innen und Sponsor*innen, zu Vertreter*innen der Presse und anderen Schlüsselpersonen auf regionaler und überregionaler Ebene Anliegen der Kulturschaffenden.
Letztlich gehe es immer wieder um ausdifferenzierte Überlegungen zum Verhältnis von Projekt und Programm von lokalen Partnern und regionalen Initiatoren. Zum Netzwerkgefüge und zu den Wirkungsmechanismen wird nachgedacht, es werden Vorschläge zur Verbesserung unterbreitet sowie Offenheit und Toleranz propagiert. Denn die Diversität solle von unten wachsen und nicht von oben verordnet werden. Die sozioökonomischen Unterschiede in den Lebenswelten vor Ort seien in den Blick zu nehmen, um die spezifischen Herausforderungen identifizieren zu können. Ein Plädoyer für Nachhaltigkeit, auch mittels Förderung des Hauptamtes, beschließt die Forschungsarbeit, nicht ohne noch einmal auf die Relevanz der Gestaltungskraft lokaler Akteur*innen in Zeiten gesellschaftlicher Transformationsprozesse in ländlichen Räumen hinzuweisen.

Solcherart wissenschaftliche Beobachtungen erbringen Erkenntnisse, die über die konkreten Projekte hinausweisen. Weitere Analysen und Reflexionen wären unter anderem für die erfolgreichen Programme wie „Trafo. Modelle für Kultur im Wandel“ der Kulturstiftung des Bundes oder „Landkulturperlen. Kulturelle Bildung im ländlichen Raum“ in Hessen wünschenswert, könnten sie doch auch Impulse für eine Kulturarbeit in ländlichen Räumen geben. Change wird also noch eine Weile das Schlüsselwort in der Soziokultur bleiben, Changemanagement ein relevanter Auftrag von Kulturpolitik.

Kurzbiografie

Professor Emeritus Dr. Wolfgang Schneider war Gründungsdirektor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, von 2014-2020 UNESCO Chair in Cultural Policy for the Arts in Development und Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages und dortselbst u.a. Berichterstatter für das Kapitel Soziokulturelle Zentren, Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Werke wie z. B. „Weißbuch Breitenkultur: Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen“ (Hildesheim 2014).