„Kulturzentren sind das Herzstück des künstlerischen und soziokulturellen Lebens europäischer Gemeinden“, sagt Ivo Peeters, Präsident des European Network of Cultural Centers (ENCC), anlässlich einer Konferenz im Herbst 2017 an der Universität Hildesheim, die sich mit Perspektiven für ländliche Entwicklung beschäftigte. Peeters spricht auch als Direktor des Kulturzentrums „De Zeyp“ im Brüsseler Bezirk Ganshoren und weiß vom täglichen Engagement, kulturpolitisch zu denken und zu gestalten, das Partizipation und Integration ermöglicht, Hoch- und Breitenkultur fördert sowie die Nachhaltigkeit von Netzwerken und Kooperationen in Kunst und Kultur im Blick hat. Programmatisch formulierte er: Die Entwicklung eines stärkeren Gemeinde- und Gemeinschaftslebens sei der Kitt, den es zur Erneuerung lebendiger Dörfer brauche. (nach Schneider 2018)
Rund 100 Teilnehmende diskutierten Theorie und Praxis von Kulturarbeit, stritten um Konzepte und Instrumente von Kulturpolitik und formulierten schließlich in einem Manifest, wie eine Kultur der Beteiligung in den Regionen innovativ wirken kann. Expertisen aus Armenien und Irland, aus Dänemark und Polen, aus den Niederlanden und Großbritannien wurden ausgetauscht, Praxisbeispiele aus der niedersächsischen Landschaft in Augenschein genommen. Eckhart Liss war wieder einmal begnadeter Gastgeber auf dem Hermannshof, Sabine Zimmermann und Stefan Könneke präsentierten ihre reichlichen Erfahrungen und reflektierten Erkenntnisse aus dem Netzwerk Kultur & Heimat im Hildesheimer Land. In den Laboratorien ging es um Vielfalt als Konflikt, um die Rolle der Kirchen sowie um mobile und dezentrale Modelle von Kulturarbeit in ländlichen Räumen.
Und immer wieder kam es zur Selbstverständigung der Konferenz; denn auch Europa hat noch genügend Verständigungsprobleme, erst recht in Sachen Kunst und Kultur. Ja, es gibt nicht den ländlichen Raum, es gibt ländliche Räume. Ja, auch kleinere Städte jenseits der Metropolen verlieren ihre kulturelle Identität und brauchen Kulturentwicklungsplanung. Ja, die Ausgangslage sind Globalisierung und Digitalisierung sowie der demografische Wandel, aber das heißt noch lange nicht, dass es nur eine Lösung gäbe. Denn wer kämpft hier gegen wen? Vielen geht es ganz selbstverständlich um Arbeitsplätze, allen um gute Bildung, andere legen großen Wert auf sinnvolle Freizeitgestaltung. Und wie sagte Lone Leth Larsen: „Die Leute aus den Dörfern haben Kultur – und wenn wir das nicht respektieren, dann gibt es ein gesellschaftliches Problem!“ Die Dänin war Direktorin des dänischen Kulturinstituts und ist Kulturberaterin des EU-Büros für die Region Mitteljutland, das für Konzeption und Durchführung des Programms zur Kulturhauptstadt 2017 in Aarhus verantwortlich war. Sie wendet sich gegen die paternalistische Haltung, man müsse mehr Kultur auf’s Land bringen, und sie kritisiert die Landverschickung von Künstler*innen. Denn in der Regionalentwicklung, insbesondere in der der ländlichen Räume, die großen Transformationsprozessen ausgesetzt sind, könne es nicht um die Hoffnung gehen, ein Klima zu schaffen, in dem die „Creative Class“ als neue Elite Heimat findet oder die Menschen dort zu smart agierenden, digital aktiven und dynamischen Entrepreneurs zu machen.
Aber um was geht es dann, wenn von „ausblutenden Dorfgemeinschaften“ die Rede ist, wenn politische Maßnahmen zu treffen sind, die Menschen zum Bleiben in ländlichen Regionen zu ermuntern – und eben nicht „das sinkende Schiff“ in der Diaspora zu verlassen? In Hildesheim verständigten sich die Akteure zunächst einmal ganz banal darauf, dass in ländlichen Räumen nicht nichts ist, sondern in der Regel eine lange Tradition von Breitenkultur gelebt wurde. Von der Vitalität des Sozialen war die Rede, vom kreativen Potenzial, das im dialektischen Verständnis auch kritisch gesehen werden kann. Die Impulsgeber sind entweder weggezogen oder von gestern, die Angebote verstaubt und selbstreferentiell, Vereinsmeierei nicht jedermanns und -fraus Sache; die junge Generation bleibt eher außen vor, wenn sie sich überhaupt noch für ihre Heimat verantwortlich fühlt. Und das, was Heimat sein kann, wird ja derzeit vor allem rechts außen definiert, zur Abgrenzung vom Fremden, rassistisch und nationalistisch verbrämt.
Beate Kegler vom gastgebenden Institut für Kulturpolitik der Universität weiß ein Rezept, zumindest was die kulturpolitische Vorgehensweise betrifft. Ihre Fragen sind zusammen mit weiteren Beiträgen nachzulesen in einer Publikation, die von der Stiftung Niedersachsen möglich gemacht wurde, in Englisch und Deutsch, mit wissenschaftlichen Betrachtungen des Phänomens, mit Beispielen aus der europäischen Praxis und mit kulturpolitischen Perspektiven: „Vital Village. Entwicklung ländlicher Räume als kulturpolitische Herausforderung“. Kegler setzt auf Soziokultur: „Wenn es darum gehen soll, gelingende Strategien und Methoden sowie kulturpolitische Handlungsempfehlungen für die Entwicklung heterogener ländlicher Räume zu entwickeln, mag es jedoch hilfreich sein, genauer hinzuschauen, welche Formen kultureller Betätigung in welcher Weise zur Gesellschaftsgestaltung beitragen. Was verstehen wir unter traditioneller Breitenkultur? Welche Merkmale vereinen Amateurtheater, Spielmannszug, Heimatverein und Blaskapelle? Und welche Rolle spielt die Soziokultur ländlicher Räume in diesem Feld? Versteht sie sich als Gegenspielerin, Netzwerkpartnerin oder Impulsgeberin der Breitenkultur?“ (Kegler 2017, S. 217)
Regionalentwicklung bedarf der Soziokultur und deshalb sind öffentliche Projektmittel nur ein Element von „Capacity Buildung“ beim „Community Building“, zwei Termini, die auf der Konferenz immer wieder im Mittelpunkt standen. Viele Beispiele guter Praxis machten deutlich, was zukünftig programmatisch zu beachten sei: Die Zusammenarbeit einer Region, dank partizipativer Programmentwicklung, partizipativer Politikentwicklung und partizipativer Landschaftsentwicklung, immer unter dem Motto „Rethink the Village“. Teilhabe bei der Planung und Mitverantwortlichkeit ist auch die Conclusio von Piotr Michalowski, der mit seinem kommunalen Kulturzentrum in der Landgemeinde Olesnica die Kulturhauptstadt Europas 2016 Wroclaw begleitet hat. Auch er setzt auf dezentrale Modelle, fördert kollektive Zusammenarbeit und horizontale Strukturen. Vor allem gehe es darum, die Mobilität in der Region zu steigern, so dass Künstler*innen und Animateur*innen die Bewohner*innen in ihren Dörfern erreichen könnten und vor Ort für Kultur mobilisierten, etwa indem sie „Wanderpfade“ mit einem Kachelofen und einem mobilen Brotbackofen organisierten. Bushaltestellen wurden runderneuert und boten Versammlungsmöglichkeiten sowie als Plattform für die Kreativität lokaler Initiativen.
Neben solchen Praxisbeispielen bot die Konferenz auch eine Verständigung über kulturpolitische Schwerpunktsetzungen. Wichtig sei es, über den Tellerrand des Dorfes hinauszuschauen, Verbündete für die Kulturarbeit in den Sozial- und Bildungseinrichtungen zu finden und für diese Zusammenarbeit Förderungen zu etablieren. Es könnte originäre Aufgabe von Landkreisen werden, Leitbilder für die kulturelle Entwicklung zu entwerfen, um kulturelle Vielfalt zu sichern und Soziokultur als Querschnittsaufgabe zu implementieren. Klar wurde, dass es sich nicht nur um eine lokale Aufgabe handele oder gar nur den ländlichen Raum betreffe. Denn: Ein Europa der Regionen will gelebt werden; Europa galt schließlich einmal als Projekt, Europa war auch eine Vision, und um Europa eine Seele zu geben, bedarf es zivilgesellschaftlicher Initiativen für kulturelle Verbindungen. Denn wenn Stadt und Land noch weiter auseinanderdriften, dann komme es zu weiteren Verwerfungen. Landflucht und Verstädterung gehören deshalb sofort auch auf die Agenda der Kulturpolitik in Europa.